Grenzen, Körperwahrnehmung und Reizüberflutung: Behandlung bei chronischer Anspannung und psychosomatischen Beschwerden

Neurodivergente (Autismus, AD(H)S) und hochsensible Menschen erleben die Welt häufig intensiver und können Reize oft weniger gut filtern. Dies kann zu dauerhaftem Stress und chronischer Anspannung führen. Gleichzeitig ist die Wahrnehmung für den eigenen Körper oft eingeschränkt, was Verkrampfungen und Verspannungen hervorrufen und Unsicherheiten verstärken kann. Auch Menschen mit traumatischen Erfahrungen, Angststörungen oder sozialen Phobien kennen solche Symptome. Viele Betroffene finden kaum passende Unterstützung. Vieles davon ist noch zu wenig erforscht und für Nicht Betroffene sind diese Dinge oft nur schwer zugänglich.

Reizüberflutung und Stressreaktionen

Kennst du das, wenn du bestimmte Reize nicht ausblenden kannst und sie bei dir direkt körperliche Reaktionen hervorrufen? Beispielsweise hörst du ein unangenehmes Geräusch, und spürst, wie sich deine Schultern anspannen oder dein Bauch sich zusammenzieht? Musst du dich nach einem Tag mit vielen Menschen erholen und bist mit vielen Reizen schneller gestresst? Oder sitzt du manchmal im Tram zu Stosszeiten, jemand riecht übel oder es starrt dich jemand an, und du kannst es einfach nicht ausblenden, dein Körper zieht sich zusammen und du fühlst dich unwohl? Wenn jemand wütend wird, verkrampfst du dich vielleicht und fühlst dich überwältigt?

Hier spielen evolutionäre Mechanismen eine wichtige Rolle: In herausfordernden Situationen – die je nach Mensch unterschiedlich wahrgenommen werden, aktiviert unser Nervensystem Stressreaktionen wie „Fight“ (Kampf), „Flight“ (Flucht), „Freeze“ (Erstarren) und „Fright“ (Schreck). Diese Reaktionen sind überlebenswichtig, können jedoch bei zu häufiger Auslösung zu Beschwerden wie chronischen Muskelverspannungen führen.

Dabei spielen nicht nur die gängigen Sinneseindrücke wie Geräusche oder Gerüche eine Rolle, sondern auch soziale Reize (z.B. Erwartungen von Anderen) oder etwa emotionale Reize (du schaust etwas Schlimmes im Fernsehen oder kannst nicht damit umgehen, dass jemand enttäuscht mit dir ist).

Vielleicht reagierst du auch verstärkt auf deine eigenen Gedanken mit körperlichen Reaktionen, z.B. wenn du dich selbst unter Druck setzt oder negative kreisende Gedanken hast.

Auch der «gesunde» Mensch erlebt allerlei Reize, auf die er mit Stressreaktionen reagiert und sich körperlich anspannt. Bei ihm kommen sie jedoch in einem ausgewogenen Mass vor und er kann sie mehr oder weniger steuern.

Der moderne Mensch wird mit so vielen Informationen und Reizen aus aller Welt konfrontiert, die auch ausserhalb seines Einflussbereich liegen und teilweise erschreckender Natur sind. Besonders Menschen, die empfindlich darauf reagieren, sollten sich davor angemessen schützen.

Sensorische Dysfunktionen und fehlendes Körpergefühl

Beim Sitzen versuchst du immer wieder unbewusst oder bewusst, dich neu «einzurichten», und findest dabei keine bequeme Haltung? Du musst dich eher wie festhalten, um Stabilität zu finden und verkrampfst dich. Hin und wieder machst du zufällige Bewegungen, um deinen Körper wie auszugleichen von der anhaltenden Spannung? Du wippst vielleicht mit den Füssen auf und ab, weil dein Körper seinen Schwerpunkt und sein Gleichgewicht sucht. Du kannst nicht einfach dastehen oder daliegen entspannt? In sozialen Situationen tendierst du dazu nervös zu sein körperlich, wechselst von Fuss zu Fuss, gehst dir öfters durch die Haare oder verspannst dich im Gesicht?

Für einige Menschen sind sensorische Dysfunktionen innerhalb der Körperwahrnehmung eine tägliche Herausforderung. Der eigene Körper wird verzerrt wahrgenommen. Die sensorische Integration für biomechanische Prinzipien wie Ausrichtung und Stabilität ist erschwert, was das Körpergefühl unsicher, verkrampft und steif wirken lässt. Jede Bewegung oder Haltung kann zur Herausforderung werden und bringt häufig eine «kämpfende» Körperspannung mit sich. Normale Haltungen wie Stehen oder Sitzen müssen bewusst kontrolliert werden, oft mit übermässiger Spannung in bestimmten Muskelgruppen, um das Gleichgewicht zu halten. Der Körper fühlt sich oft asymmetrisch an und neigt zu falsch verteiltem Druck, was zu Belastungen im Bewegungsapparat, Dysbalancen und Abnutzungserscheinungen führen kann.

Normalerweise funktionieren die biomechanischen und statischen Prinzipien bei einem Menschen ohne grössere Probleme, das heisst, er richtet sich automatisch richtig aus im Raum und sein Bewegungsapparat bewegt sich im Gleichgewicht.

Für eine gute Haltung und eine gute Körperwahrnehmung ist hauptsächlich das propriozeptive sensorische System (Tiefensensibilität) verantwortlich. Dieses besteht aus Sensoren in Muskeln, Sehnen und Gelenken, die Informationen über Lage, Druck und Ausrichtung an das Gehirn leiten. Sie bildet das Fundament eines stabilen Körperkonzepts, das auch essentiell für die psychische Stabilität ist.

Auch das vestibuläre System (Gleichgewichtssinn), das sich im Innenohr befindet und auf Lageveränderungen des Kopfes und der Körperhaltung reagiert, kann betroffen sein. Menschen mit vestibulärer Dysfunktion erleben sich als unsicher auf den Beinen oder haben das Gefühl, dass sie jederzeit das Gleichgewicht verlieren könnten. Der Körper reagiert mit Anspannung, um Stabilität aufrechtzuerhalten, und verharrt oft in versteiften Haltungen, um den Kontrollverlust zu vermeiden.

Wechselwirkung zwischen psychischen und physischen Grenzen

Diese eingeschränkte Fähigkeit zur physischen Wahrnehmung kann sich wiederum auf die psychische Ebene auswirken. Wenn der eigene Körper und seine Grenzen im Raum nicht stabil wahrgenommen werden, fehlt oft auch die Fähigkeit, sich psychisch gegenüber äusseren Einflüssen abzugrenzen. Menschen können sich schneller wie überwältigt fühlen und brauchen länger um sich davon zu erholen.

Umgekehrt kann es auftreten, dass Menschen, die Schwierigkeiten haben, sich psychisch abzugrenzen und mit Reizen umzugehen, eine verzerrte oder unsichere Körperwahrnehmung entwickeln. Von äusseren Reizen überwältigt zu werden, kann dazu führen, dass die eigenen körperlichen Grenzen verschwimmen - das Körperkonzept verliert an Stabilität und wird weniger greifbar.

Eine stabile Wahrnehmung physischer und psychischer Grenzen ist essentiell, um sich selbst regulieren und in der Interaktion mit der Umwelt stabil bleiben zu können.

Traumata und das Überschreiten von Grenzen

Menschen, deren Grenzen durch traumatische Erfahrungen überschritten wurden, kennen diese Problematik oft besonders gut. Traumata sind Situationen, in denen das eigene System überwältigt wird und keine angemessene Kontrolle darüber oder Abgrenzung davon möglich ist. Der Organismus schaltet auf eine der beschriebenen Stressreaktionen um und bei nicht angemessener Selbstregulation können diese auch nach Trauma wieder auftreten.

Diese grenzüberschreitenden Erfahrungen zeigen sich häufig in einem weiterhin gestörten Verhältnis zur Umwelt. Betroffene können sich oft physisch und psychisch schlechter abgrenzen und Erlebtes verarbeiten. Die Fähigkeit, den eigenen Raum zu spüren und seine Grenzen zu wahren, wird beeinträchtigt. Ihr Nervensystem ist häufiger alarmiert wegen potentiellen bedrohlichen Situationen, Stressreaktionen treten vermehrt auf. Der Organismus kann durch die anhaltende Belastung immer schlechter seine Selbstregulation betreiben, Reize dringen ungefilterter durch: er gelangt in einen Teufelskreis, der aus Schutz vor Überforderung bis zur Isolation führen kann.

Eine körpertherapeutische Behandlung ist bei Menschen mit traumatischen Erfahrungen deswegen so wichtig. In meiner Praxis lege ich grossen Wert auf eine achtsame und sichere Begleitung und dass die ansgesammelten Spannungen sich langsam lösen dürfen.

Herausforderung bei Autismus: sich «normal» verhalten

Ein weiterer Aspekt ist, dass für Menschen im Autismus-Spektrum soziale Interaktionen oft bewusstes Nachdenken erfordert. Dies führt zu einem unnatürlichen Erleben des eigenen Körpers und einer angespannten Haltung. Man überlegt sich, wie man da stehen soll, wo man hinschauen soll, wann man wie reagieren soll etc. – in der Absicht, «normal» und angemessen zu wirken. Diese bewusst gesteuerte Haltung führt schnell zu einer Verkrampfung in Mimik, Gestik und Körperhaltung. Zudem erfordert das bewusste Nachdenken und Steuern Energie und erschöpft.

Die kontinuierliche Kontrolle und Unterdrückung natürlicher Verhaltensweisen (Masking) führt zusätzlich zu einer erhöhten muskulären Belastung und oft zu chronischen Verspannungen, insbesondere im Nacken, Gesicht und Rücken.

Sensiblere Autisten scannen ihre Umgebung intensiver und haben Angst, etwas falsch zu machen oder sich weird zu verhalten, aufzufallen. Seit sie ein Kind sind fühlen sie sich anders. Dies führt zusätzlich zu Anspannung. Kommen dazu noch Reizüberflutung und Traumafolgestörungen wie Hypervigilanz, chronische Anspannung oder niedrige Stresstoleranz dazu, wird das System völlig überfordert. Jede kleinste Aktivität «in der Welt da draussen» bedeutet Stress, und was macht der Mensch in diesem Fall, er schützt und schont sich. Viele Autisten isolieren sich aus diesen oder ähnlichen Gründen.

Kognition, Bewertung und individuelle Wahrnehmung

Wie wir Reize verarbeiten und auf sie reagieren, hängt auch von unserer kognitiven Bewertung und individuellen Erfahrungswelt ab. Jeder Mensch nimmt sich und seine Umwelt anders wahr, geprägt durch seine individuelle Konstitution und Erfahrungswelt. Biologische Reaktionen sind jedoch inhärent und natürliche Mechanismen. Sie zu verstehen und zu erkennen sowie einen resilienten und achtsamen Umgang mit ihnen zu pflegen, ist entscheidend. Statt Stress und unliebsame Attribute negativ zu bewerten oder sie zu verdrängen und ihnen zu viel Gewicht damit zu geben, sollte der Fokus auf einer gesunden Selbstregulation und einer ausgewogenen Daily Practice für Body & Mind liegen. So können wir langfristig besser mit Reizen umgehen und verhindern, dass sich Verspannungen oder Überforderungen chronisch manifestieren.

Mein Behandlungsansatz

Um Menschen mit diesen Herausforderungen zu unterstützen, habe ich ein manualtherapeutisches Behandlungskonzept mit ergänzenden Übungen entwickelt, das folgende Schwerpunkte setzt:

  • Edukation & Selbstreflexion: wie reagiert mein Organismus und warum?

  • Individuell abgestimmte Behandlung mit Feedbacksystem

  • Gezielte Beruhigung des Nervensystems; Stressreduktion

  • Lösung myofaszialer Verspannungen

  • Förderung der Körperwahrnehmung

  • Selbstregulation, Haltung und Selfcare

Der erste Schritt ist, dir eine Atmosphäre zu schaffen, in der du dich sicher fühlst und zur Ruhe kommen kannst. Während der Behandlung nimmst du dich und deinen Körper als Einheit wahr und deine Selbstregulation wird angekurbelt. Spannungen werden nicht nur isoliert gelöst, sondern im Kontext des gesamten Körpers als strukturelle Einheit. Dadurch entsteht ein Raum, wo du dich neu ordnen und erleben kannst.

Ich arbeite sowohl an Muskeln, als auch an Faszien, Gelenken und dem Nervensystem, um angenehme sensorische Reize zu setzen, Spannung zu reduzieren und das Gleichgewicht im Körper wiederherzustellen. Faszienverklebungen und muskuläre Verspannungen werden sanft gelöst und das Gewebe wird geschmeidiger und von unnötigem Druck befreit. Mobilisationen, rhythmische Bewegungen, lange langsame Streichungen und tiefer Druck vereinen sich zu einem Entspannungsritual wo du ganz bei dir ankommen kannst. Ergänzende Übungen, die zu dir passen, unterstützen dich im Alltag und fördern deine langfristige Gesundheit.

Falls du dich in diesen Beschreibungen wiedererkennst oder jemanden kennst, der ähnliche Herausforderungen erlebt, hoffe ich, dass diese Einblicke bereits zu einem besseren Verständnis beitragen konnten.

In meiner Praxis biete ich dir einen Raum, in dem wir gemeinsam daran arbeiten können, deine Verkrampfungen zu lösen und deine Körperwahrnehmung zu verbessern. Gib dir die Chance deinen Körper neu zu erleben und von chronischer Anspannung Schritt für Schritt zu befreien. Ich freue mich, dich auf diesem Weg zu begleiten. 🌿

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